Die Sau und das Dorf Berra-Thunk

Eine Glosse auf Neuerfindungen der Berater-Branche und Banalitäten in der Diskussion um Unternehmenswerte

Eigent­lich ist es lang­wei­lig in Berra-Thunk. Die meis­ten Bewoh­ner stört’s nicht wei­ter. Sie betrach­ten die Land­luft als aus­rei­chende Ent­schä­di­gung für den sti­cki­gen Dunst ihrer Arbeits­um­ge­bung. Meist fah­ren Sie mit Ihren Autos zum nächs­ten Flug­ha­fen, um sich die weite Welt zu erobern. Sie ver­kau­fen ihren Kun­den – meis­tens sol­che, die ein Geschäft von ziem­li­cher Größe zu füh­ren haben – hüb­sche Pro­gramme zur Stei­ge­rung von irgend­et­was, die sich zwar noch nie bewährt haben, aber para­do­xer­weise immer wie­der gern genom­men wer­den (ver­mut­lich, weil die Kon­kur­ren­ten sie auch neh­men). Die Zurück­ge­blie­be­nen war­ten sehn­süch­tig auf den Post­mann, der nie drei­mal klin­gelt. Den Erobe­rern reicht es, am Wochen­ende (meis­tens nur sonn­tags) den ziem­lich gro­ßen Gar­ten zu bear­bei­ten oder Locke­rungs­übun­gen auf dem eigens ange­leg­ten Golf­platz zu vollführen.

Das alljährliche große Rennen

Aber ein­mal im Jahr ist das ganze Dorf auf den Bei­nen. Alle Berra-Thunk-Häus­chen wer­den für Besich­ti­gun­gen adrett her­aus­ge­putzt, aller Unrat der letz­ten Ver­zweif­lungs­ta­ten weg­ge­räumt und der Par­cours für das große Ren­nen vor­be­rei­tet. „Der Große Preis von Berra-Thunk“ für die wert­vollste Rasse-Sau des Lan­des hat über die Jahre Kult­sta­tus erlangt. Mor­gens sieht man, wie sich von über­all her große Karos­sen dem Dorf nähern und sich auf die Kuh­wiese ein­wei­sen las­sen. Wich­tige Fir­men­len­ker und Mana­ger ent­stei­gen den Gefähr­ten in sport­li­chem Out­fit, um dann mit behen­den Schrit­ten dem Ort des Gesche­hens ent­ge­gen zu eilen.

Das Dorf ist fest­lich mit Fähn­chen und Wim­peln geschmückt, selbst die Absper­run­gen an der Renn­bahn schil­lern in bun­ten Far­ben. Dort wer­den wenig spä­ter auf der einen Seite die Berra-Thun­ker, auf der ande­ren die Hin­ter­mann­schaf­ten der Busi­ness-VIPs Posi­tion bezie­hen, um ihre Schlacht­rufe zu skan­die­ren. In der Luft liegt der boden­stän­dige Geruch von Bier und Erb­sen­suppe, der sich so wohl­tu­end ehr­lich von den sonst übli­chen cham­pa­ger­um­weh­ten Lachs- und Kavi­ar­häpp­chen abhebt.

Der Schwei­ne­duft ist zunächst nur in klei­nen Essen­zen bemerk­bar. Das schwer bewachte Gemäuer, in dem die neuen Säue her­an­ge­züch­tet und dann wie Erl­kö­nige vor den Bli­cken der Öffent­lich­keit bis zum D‑Day ver­steckt wer­den, ist etwas außer­halb des Dorf­kerns gele­gen. Aber nun ist es soweit: Fir­men­len­ker und sons­tige Ent­schei­dungs­trä­ger ver­sam­meln sich in ihrem Sport­dress zu einem fröh­li­chen klei­nen Fuß­marsch, um vor den Toren des Gemäu­ers vom Bür­ger­meis­ter auf das Aller­herz­lichste emp­fan­gen zu wer­den. „… Und so freuen wir uns, Ihnen nun die bes­ten Zucht­schweine der aller­neu­es­ten Rasse „ALPHA-VALUES FOR BUSI­NESS SUC­CESS“ vor­stel­len zu dür­fen, die heute ins Ren­nen geschickt wer­den. Bitte schön!“

Wetten

Nach dem obli­ga­to­ri­schen Tusch lau­fen alle, von Neu­gier getrie­ben, hek­tisch los – und der Unein­ge­weihte könnte der Welt von chao­ti­schen Zustän­den berich­ten, wo alle durch­ein­an­der lau­fen, ges­ti­ku­lie­ren und rufen: „Macht 72 – 3.900 Sieg!“ „Sym­pa­thie – Sym­pa­thie 13 – 16.000 Platz!“ „Freude 24 – 6.400 Sieg und Platz!“. Ken­ner der Szene hin­ge­gen wis­sen um die genau fest­ge­legte Cho­reo­gra­fie. Wochen zuvor haben die Len­ker und Hand­ar­bei­ter Lis­ten mit Namen bekom­men, die nun ihnen zuar­bei­tende Adju­tan­ten ver­wal­ten. Die Züch­ter ste­hen lie­be­voll bei Ihren Säuen und prei­sen aufs Vor­treff­lichste deren Vor­teile für die Bewäl­ti­gung der neuen Her­aus­for­de­run­gen. Auf Geheiß der Mäch­ti­gen tra­gen die Adju­tan­ten nach genau­es­ter In-Augen­schein-Nahme der ein­zel­nen Säue Kreuz­chen und Euro-Zei­chen in die Lis­ten ein. 

Die Buch­ma­cher haben für die Wet­ten, die dar­auf­hin abge­ge­ben wer­den, alle Hände voll zu tun, die Ein­sätze über­stei­gen in die­sem Jahr alle Erwar­tun­gen. Als abso­lute Spit­zen­rei­ter und damit Favo­ri­ten für das fol­gende Ren­nen sol­len sich „Empa­thie 27“ , „Ein­fluss 13“, „Leich­tig­keit 69“, „Frie­den 131“, „Natür­lich­keit 88“ und „Spaß 99“ erwei­sen, die jeweils weit über 250.000 Euro Wett­ein­satz erzielen.

Start .….

Wenig spä­ter am Start­platz ist die Span­nung mit Hän­den zu grei­fen. Der Start­schuss fällt, und unter laut­star­ken Anfeue­rungs­ru­fen aus allen Rich­tun­gen geht’s durch Dorf, Wald und Wiese. Im dicht gedräng­ten Feld von 250 Kan­di­da­ten erkennt man neben den Favo­ri­ten wei­tere inter­es­sante Teil­neh­mer wie „Pri­vi­le­gien 211“, „Abwechs­lung 376“, „Her­zens­wärme 513“, „Chance 56“, „Tra­di­tion 008“ und „Gesel­lig­keit 44“. 

Die den Limou­si­nen Ent­stie­ge­nen haben die Säue, auf die sie gesetzt haben, fest im Blick und fol­gen ihnen wäh­rend des Ren­nens mit Moun­tain-Bikes auf Schritt und Geläuf. Dicht hin­ter den Säuen sehen wir jeweils die Züch­ter aus Berra-Thunk, die mit aller­lei Gerät­schaf­ten ihre Schöp­fun­gen auf dem Par­cours zu Höchst­leis­tun­gen trei­ben. Das mediale Inter­esse ist rie­sig, Volks­fest­stim­mung zwi­schen Aus­ge­las­sen­heit und sport­li­chem Ernst hat sich breit gemacht – und so wird es für die Unter­neh­men wie für die Züch­ter aus Berra-Thunk eine hüb­sche PR-Maßnahme. 

Selbst Zuchtsauen sind aller­dings in ihren Impul­sen schwer bere­chen­bar. Damit es nicht zu Ent­täu­schun­gen und Demo­ti­va­tion kommt, haben die Berra-Thun­ker, weise wie sie sind, vor­ge­sorgt. Selbst an den ent­le­gens­ten Win­keln, an Tüm­peln, im Morast, an Abhän­gen, ja gar in jedem der Berra-Thunk-Häu­ser wer­den vor­sichts­hal­ber bunte Ziel­bän­der auf­ge­stellt, die den sie rei­ßen­den Säuen nebst Trei­ber „SIEG“ signa­li­sie­ren, fest­ge­hal­ten für die Öffent­lich­keit durch all­seits prä­sente Filmkameras.

.… und Ziel

Die über­wie­gende Anzahl der Säue läuft tat­säch­lich nicht am geplan­ten Haupt-Ziel ein, son­dern lan­det über Stock und Stein bei einem der Pla­cebo-Bän­der, bekommt aber ob der all­ge­gen­wär­ti­gen Jub­ler aus Berra-Thunk, der Fähn­chen-schwen­ken­den Mas­sen und der Kame­ras trotz­dem das gute Gefühl, einen Sieg ein­ge­lau­fen und damit etwas Wert­vol­les geleis­tet zu haben. Im Haupt­feld wech­seln sich die Favo­ri­ten gegen­sei­tig ab, span­nen­der geht’s kaum, bis kurz vor dem Ziel eine weit­ge­hend unbe­kannte Sau das Feld von hin­ten auf­rollt und um Rüs­sel­breite den Gesamt­sieg ein­fährt: Es ist – es ist – tat­säch­lich – die Num­mer 111: „Über­ra­schung“, mit der kaum jemand gerech­net hatte. 

Unter fre­ne­ti­schem Bei­fall wird die Sau nebst Züch­ter umringt und fast zeit­gleich leuch­tet über­all im Rund in Leucht­schrift auf: „CHAM­PION BUSI­NESS VALUE 2023: ÜBER­RA­SCHUNG 111!“. Das geht sogleich über alle Ticker der Nach­rich­ten­agen­tu­ren, gefolgt von der Liste der ande­ren 249 Sie­ger! Soviel Glück­s­tau­mel war nie! Und wen wundert’s: Den Züch­tern wer­den die Säue von den Fir­men­len­kern und Mana­gern förm­lich aus den Hän­den geris­sen, meist­bie­tend, ver­steht sich. Und alles endet in einem Freu­den­fest, bei dem sich alle auf die Schul­tern klop­fen: „Super war’s mal wie­der! Ein tol­ler Gaudi! Bis zum nächs­ten Jahr in Berra-Thunk!“

Nur ein Traum

Aus der Ferne dringt ein all­mäh­lich anschwel­len­der Ton an den Gehör­gang von Sebas­tian, der Wecker been­det sei­nen schö­nen Traum, zusam­men mit den auf­mun­tern­den Rufen von Clau­dia aus der Küche: „Schatz, auf­stehn, Früh­stück ist fer­tig. Und beeil dich! Heut ist doch mein gro­ßer Tag bei B+B. Drück mir die Dau­men. Die Kin­der müs­sen in die Schule. Ich bin dann mal weg! Ciao!“ Und die Tür fällt ins Schloss.

Schluss.